Ein universelles Gesetz für den Tastsinn als Grundlage für eine revolutionäre Form der virtuellen Realität

EU-geförderte Forschende haben mithilfe von bestimmten seismischen Wellen – den sogennanten Rayleigh-Wellen – ein universelles Skalierungsgesetz abgeleitet, um den Tastsinn von Säugetieren zu erklären. Ihre Vision? Eine revolutionäre neue Form der virtuellen Realität auf der Basis dieses Wissens.

Der Tastsinn entwickelt sich bei Säugetieren in der Regel als erstes. Er ermöglicht es ihnen, Vibrationen an ihrer Hautoberfläche wahrzunehmen und dadurch die unterschiedlichen Reize in ihrer Umwelt besser zu interpretieren. Im Rahmen des EU-finanzierten Projekts H-Reality (Mixed Haptic Feedback for Mid-Air Interactions in Virtual and Augmented Realities) haben Forschende diesen Grundsatz nun herangezogen, um ein universelles Skalierungsgesetz des Tastsinns von Säugetieren abzuleiten, das neue Wege in der virtuellen Realität eröffnen könnte. Die Ergebnisse des Teams von H-Reality wurden in der Fachzeitschrift „Science Advances“ veröffentlicht.Wenn man mit der Hand an einer Wand entlangfährt, wandern Vibrationen durch die Haut und stimulieren die als Mechanorezeptoren bezeichneten Nervenendigungen. Die Mechanorezeptoren wandeln die mechanischen Vibrationen in elektrische Signale um, die an das Gehirn übertragen werden. Vom Gehirn wird dies dann als taktiles Ereignis interpretiert. Diese dynamische Reaktion der Nervenendigungen in der Haut auf Vibrationen wird als vibrotaktile Reaktion bezeichnet. Mithilfe von mathematischer Modellierung und Tastrezeptoren konnten die Forschenden von H-Reality zeigen, dass die vibrotaktile Reaktion durch Rayleigh-Wellen gesteuert wird, die vor allem in der Erdbebenforschung eine Rolle spielen. Sie konnten außerdem nachweisen, dass Rayleigh-Wellen sich nicht nur auf der Hautoberfläche ausbreiten, sondern alle Hautschichten und Knochen bis zu den Mechanorezeptoren durchdringen.

„Der Tastsinn ist seit Urzeiten in uns verwurzelt und war für unsere Urahnen ebenso wichtig wie für alle heutigen Säugetiere – doch er gehört auch zu den kompliziertesten und ist daher erst unzureichend erforscht“, so Dr. Tom Montenegro-Johnson vom Projektkoordinator, der Universität Birmingham, in einer Pressemitteilung, die auf der Universitätswebsite veröffentlicht wurde. „Beim Seh- und Hörsinn konnten wir beispielsweise bereits auf universelle Gesetze zurückgreifen, doch nun konnten wir erstmals auch den Tastsinn auf diese Weise erklären.“

Das Wissenschaftsteam zeigte, dass die Wechselwirkung zwischen den Rayleigh-Wellen und den Rezeptoren durch Veränderungen der Hautfeuchtigkeit (und entsprechend der Steifigkeit der äußersten Hautschicht) nicht erheblich beeinträchtigt wurde. Mit anderen Worten: Die Mechanorezeptoren zeigten eine konstante Reaktion auf die Rayleigh-Wellen, die auch bei unterschiedlichen Bedingungen der äußeren Hautschicht wie etwa aufgrund von Alter, Beruf, Geschlecht oder anderen Faktoren unverändert blieb.

Das Projektteam wandte sein Modell auf experimentelle Daten an und konnte dabei ein universelles Skalierungssystem für die Tiefe der Tastrezeptoren ausmachen, das mehreren Säugetierarten (mit Ausnahme von kleinen Nagetieren) gemeinsam ist. Das Verhältnis zwischen der Wellenlänge einer Rayleigh-Welle in der Haut und der Tiefe der Mechanorezeptoren beträgt laut den Berechnungen des Teams etwa 5:2. Das deutet darauf hin, dass die Wahrnehmung von Vibrationen bei Säugetieren einer evolutionär erhaltenen Konstante unterliegt.

„Die von uns definierten Grundsätze ermöglichen uns ein besseres Verständnis davon, wie unterschiedlich Berührung von verschiedenen Arten erlebt wird“, merkt der Mitautor Dr. James Andrews von der Universität Birmingham in derselben Pressemitteilung an. „Würde man beispielsweise bei einem Nashorn die Haut um 5 mm eindrücken, würde das Tier das Gleiche empfinden wie ein Mensch mit einer ähnlichen Druckstelle – einzig der Kraftaufwand, um eine solche Druckstelle zu verursachen, würde sich unterscheiden. Aus evolutionärer Sicht ergibt das absolut Sinn, denn dieses Empfinden steht mit der Erkennung relativer Gefahren und möglicher Schäden in Zusammenhang.“

Bei der Entwicklung ihres mathematischen Modells stützten sich die Forschenden von H-Reality auf die Theorie des Nobelpreisträgers Georg von Békésy, nach der die Untersuchung von Erdbeben näheren Aufschluss über die Eigenschaften von Rayleigh- und Love-Wellen in der Haut geben könnte. Durch seine Forschung möchte das Projektteam schließlich virtuelle Objekte mit einer physischen Präsenz entwickeln und damit den Bereich der virtuellen Realität revolutionieren.

Weitere Informationen:

H-Reality-Projektwebsite


Datum der letzten Änderung: 2020-11-04 17:15:01
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